Quantcast
Channel: Joseph Kuhn – Gesundheits-Check
Viewing all articles
Browse latest Browse all 1524

Impfkritik 2.0 – Ist die Masernimpfung bevölkerungsmedizinisch überflüssig?

$
0
0

Die Masernimpfung steht in alternativmedizinischen Kreisen besonders in der Kritik. Sie gilt dort vielfach als medizinisch unnötiger, wenn nicht sogar schädlicher Eingriff in den natürlichen Lauf der Dinge. Oft sind die Argumente, die dabei vorgebracht werden, medizinisch schlicht falsch und in der Sache leicht zu widerlegen. Es gibt aber auch Argumente, die auf den ersten Blick ganz überzeugend wirken und denen Impfbefürworter manchmal ungewollt Unterstützung geben. Beispielsweise findet man als Beleg für den Nutzen der Masernimpfung immer wieder Grafiken wie diese:

Masern_Trend_USA

Die Grafik suggieriert, dass die Masernfälle erst mit der Verfügbarkeit der Impfung von ihrem hohen Ausgangsniveau zurückgingen. Dagegen führen manche Impfkritiker an, dass medizinhistorische Daten einen Rückgang der Masern schon vor der Impfung zeigen. So wird z.B. im Rundbrief 1/2013 der impfkritischen Gruppe “Libertas & Sanitas“ unter anderem mit der berühmten Grafik Thomas McKeowns zu den Masernsterbefällen in England und Wales argumentiert:

Masern_Trend1

Bei den Masern kann man eine analoge Entwicklung – bezogen auf die Sterbefälle – auch für Deutschland zeigen, ähnliche Zeitreihen gibt es für eine Reihe weiterer Infektionskrankheiten. Die Grundthese McKeowns, dass der Rückgang vieler Infektionskrankheiten auf die Verbesserung der Lebensbedingungen zurückzuführen ist und nicht auf die Impfung, ist unbestritten. McKeown taugt allerdings nicht als Kronzeuge einer pauschalen Impfkritik, er sieht trotz seiner Grundthese den Nutzen von Impfungen und differenziert auch zwischen den verschiedenen Infektionskrankheiten – nicht alle folgen nämlich dem „Masern-Muster“.

Dennoch: Richtig bleibt, dass die Masern bereits vor der Verfügbarkeit eines Impfstoffs zurückgingen, d.h. die Grafik mit den Masern in den USA ist zeitlich unzulässig zensiert. Belegt das nun, wie Impfkritiker meinen, dass die Masernimpfung bevölkerungsmedizinisch tatsächlich nutzlos ist? Mit dem gleichen Argument könnte man argumentieren, die Gurtpflicht im Auto sei nutzlos: Die Zahl der Verkehrstoten war in Deutschland 1970 am höchsten und ging bereits vor Einführung der Gurtpflicht 1976 zurück. Auch hier wirken einfach nur mehrere Ursachen zusammen, z.B. Geschwindigkeitsbegrenzungen, die Senkung der Promillegrenze, die Verbesserung der Sicherheitstechnik, des Rettungsdienstes und der Unfallmedizin – und eben ab 1976 die Gurtpflicht.

Das Argument der Impfkritiker wäre stichhaltig, wenn es um die Behauptung ginge, allein die Impfung sei für den Rückgang der Erkrankungen verantwortlich. Diese Behauptung wäre in der Tat falsch. Aber damit wird die Masernimpfung nicht begründet. Die Masernimpfung soll vielmehr eine Verringerung der Erkrankungszahlen herbeiführen, die anders, z.B. über säkulare Trends bei den Lebensbedingungen, nicht mehr erreichbar wäre. Auch die Pocken hätte man ohne Impfung nicht ausrotten können. Hinzu kommt, dass der Rückgang der Infektionskrankheiten kein „zivilisationsgeschichtliches Gesetz“ ist, nicht zuletzt Kriege und Naturkatastrophen zeigen immer wieder das Gegenteil.

Ob sich in der bevölkerungsmedizinischen Argumentation von Liberatas & Sanitas eine neue Richtung der Impfkritik andeutet? Hin- und Herwechselnd zwischen dem Bestreiten von Kausalzusammenhängen und dem Bestreiten, dass das verbliebene Risiko ein öffentliches Interesse am Impfen begründet? Vielleicht auch mit neuen Bündnispartnern, was den Kampf gegen die „etablierte Wissenschaft“ angeht? Auf S. 16 des zitierten Rundbriefs wird ausgerechnet Günter Ropohl bemüht, ein leidenschaftlicher Streiter gegen den wissenschaftlichen Konsens beim Thema Passivrauchen. Ob da an Wissenschaftskritik zusammenwächst, was zusammengehört?

flattr this!


Viewing all articles
Browse latest Browse all 1524