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Channel: Joseph Kuhn – Gesundheits-Check
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Public Health ist keine Convenience-Science

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Public Health, die Lehre von der öffentlichen Gesundheit, ist keine “wertfreie“, rein deskriptive Wissenschaft, sofern es so etwas überhaupt gibt. Bereits die maßgebliche empirische Frage, was krank macht und was gesund erhält, ist nicht wie die Unterscheidung zwischen gelb und grün. „Krankheit“ und „Gesundheit“ sind normative Konzepte, man kann sie ohne ein Verständnis davon, wie es sein soll, nicht definieren. Die normative Grundierung von Public Health ist auf allen Ebenen des Fachgebiets unübersehbar, z.B. wenn soziale Determinanten der Gesundheit wie Armut thematisiert werden, oder wenn mit Begriffen wie „vermeidbaren Sterbefällen“ gearbeitet wird. Des Weiteren hat Public Health nicht nur eine wissenschaftliche Seite, sondern auch eine praktische und dort stellt sich die Frage danach, was sein soll, was ethisch richtig oder falsch ist, ohnehin ganz explizit. Das zentrale Anliegen von Public Health, als „upstream healthcare“, sind Prävention und Gesundheitsförderung und man präveniert nur, was nicht sein soll. Anders als im individualmedizinischen Bereich tangiert dies bei Public Health unvermeidlich die politische Ebene.

Im „Gründungsdokument“ der Gesundheitsförderung, der Ottawa-Charta der WHO 1986, war das unhinterfragter Konsens:

„Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Gesundheit sind Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Jede Verbesserung des Gesundheitszustandes ist zwangsläufig fest an diese Grundvoraussetzungen gebunden.

(…)

Die Teilnehmer der Konferenz rufen dazu auf:
– an einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik mitzuwirken und sich dafür einzusetzen, dass ein eindeutiges politisches Engagement für Gesundheit und Chancengleichheit in allen Bereichen zustande kommt;
– allen Bestrebungen entgegenzuwirken, die auf die Herstellung gesundheitsgefährdender Produkte, auf die Erschöpfung von Ressourcen, auf ungesunde Umwelt- und Lebensbedingungen oder eine ungesunde Ernährung gerichtet sind. Es gilt dabei, Fragen des öffentlichen Gesundheitsschutzes wie Luftverschmutzung, Gefährdungen am Arbeitsplatz, Wohn- und Raumplanung in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stellen (…).“

Das liest sich nicht zu Unrecht wie ein Aufruf zur Reform von Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt. In einem Kommentar „25 Jahre Ottawa Charta – Bilanz und Ausblick“ hatte ich 2011 dazu etwas skeptisch geschrieben:

„Wovon man Abschied nehmen sollte, ist die in der Ottawa-Charta an vielen Stellen durchscheinende Vorstellung, Gesundheit über den Health in all Policies-Ansatz zu einem Leitprinzip der gesellschaftlichen Entwicklung zu machen. Die gesellschaftliche Entwicklung wird primär von anderen Triebkräften bestimmt und sie wird daher immer dominieren, was in der Gesundheitsförderung möglich ist – in der umgekehrten Richtung sind die Kräfte deutlich geringer. Wobei der Blick auf den Erfolg der ökologischen Bewegung durchaus Anlass für einen hoffnungsvoll gestimmten Realismus gibt.“

Es heißt zwar oft, Gesundheit sei unser höchstes Gut, aber dem ist bekanntlich nicht so und andere Lebensziele haben ihre eigene, gleichwertige Berechtigung. Inzwischen muss man sich allerdings fragen, ob von Public Health und dem weitreichenden Ansatz der Gesundheitsförderung im Sinne der Ottawa-Charta überhaupt noch gesellschaftliche Reformimpulse ausgehen, oder ausgehen können, ob es angesichts der multiplen Krisen überhaupt noch Anlass für den impliziten Optimismus gibt, der die Ottawa-Charta trägt.

Es ist sicher nicht nur eine terminologische Mode, dass in der Public Health-Debatte der Empowerment-Begriff der Ottawa-Charta, die Idee, gemeinsam eine gesündere Zukunft schaffen zu wollen und zu können, weitgehend durch den Resilienz-Begriff, das Gesundbleiben trotz widriger Umstände, abgelöst wurde. Vielmehr scheint hier ein Eingeständnis der Übermacht der Verhältnisse statt ihrer Veränderbarkeit zum Ausdruck zu kommen. Eine bedenkenswerte Analogie zu defensiven Wandlungen der Demokratietheorie und des Aufkommens des Resilienzbegriffs dort übrigens.

Aber selbst in dieser resignativen Fassung setzt Public Health noch die Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft voraus: Ein „Endzeitfaschismus“, der diese gemeinsame Zukunft zugunsten eines „Survivals of the Richest“ oder nationalegoistischer Bollwerke für auserwählte Völker aufgibt, wäre keine Basis mehr für Public Health, so wie man öffentliche Gesundheit bei uns seit 80 Jahren, eingedenk der Lehren aus dem Nationalsozialismus, ausbuchstabiert hat.

Was also ist zu tun? Wenn Public Health zur Fahrstuhlmusik der Verhältnisse würde, zur Convenience-Science, verlöre sie ihren kritischen, reformorientierten Charakter. Public Health kann sich nicht gemütlich in einen Elfenbeinturm zurückziehen, wenn es in der Welt drunter und drüber geht. „Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten“, heißt es bei Matthäus 5;13 – ein Appell, der ein ähnliches Unbehagen gegenüber der der Versuchung der Resignation ausdrückt. Schon gar nicht sollten die Gesundheitswissenschaften als „servants of power” dienen und zum Öl statt zum Sand im Getriebe der Welt werden.

Vermutlich stimmen darin im Grundsatz die meisten Vertreter:innen von Public Health auch überein. Aber was das konkret bedeutet, in Theorie und Praxis, im Verhältnis zwischen Objektivität und Normativität, für die Auswahl von Forschungsthemen, für die Politikberatung, die Mitarbeit in Gremien, für Publikationschancen, für Drittmittel, für die Konfliktbereitschaft gegenüber politischen Akteuren und mehr, wäre zu diskutieren, auch auf den großen Public Health-Kongressen. Beim Symposium des Zukunftsforums Public Health im Dezember 2024 gab es dazu einen Anlauf, die Diskussion sollte damit nicht beendet sein.

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